Die zweite Phase des Integrationsmodells bezeichnet man als Übertragungs-Phase. Sie beginnt, sobald Pflegekinder die Beziehung zu ihren Pflegeeltern als sicher empfinden, sodass alte Erfahrungen an die Oberfläche kommen, also alte Beziehungen auf diese neue übertragen werden. Es kann in dieser Phase gehäuft zu Missverständnissen und Ablehnung kommen, das Kind fühlt sich mitunter unverstanden und verwirrt in seiner Wahrnehmung. In dieser Phase ist bei traumatisierten Kindern die Gefahr der Retraumatisierung besonders groß. Nils muss jetzt immer wieder die Erfahrung machen, dass es in dieser neuen Eltern-Kind-Beziehung mit Ihnen sicher ist, dass er keine Gewalt, keinen Mangel mehr befürchten muss.[1]
In der Übertragungsphase unterstützen
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter beschreibt einige unausgesprochene Fragen des Kindes, die hinter dem Übertragungsphänomen stecken können:
- „Wie werden meine Bedürfnisse nach Versorgung beantwortet?
- Halten die Pflegepersonen, hält die Pflegefamilie mein Verhalten aus?
- Werde ich vor Gefahren geschützt?
- Wie berechenbar sind die Pflegepersonen/ist die Pflegefamilie in ihrem Verhalten mir gegenüber?
- Halten sie ihre Versprechen ein?“ (Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, S. 34)[2]
Besonders wichtig ist es in dieser Phase, mögliche Übertragungsphänomene zu erkennen und darauf in einer Weise zu reagieren, dass alte, negative Bindungserfahrungen in der neuen Beziehung korrigiert werden können.
Förderlich ist hierbei die Grundannahme, dass frühere Bindungspersonen das Beste versucht haben, um dem Kind ein förderliches Aufwachsen zu ermöglichen, es aber gute Gründe dafür gab, warum die Bezugspersonen hierzu nicht oder nicht ausreichend in der Lage waren. Ein wertschätzender Blick der Pflegeeltern auf bisherige Bezugspersonen erleichtert es dem Kind, ein vollständiges Selbstbild zu entwickeln. Pflegeeltern unterstützen die Entwicklung ihres Pflegekindes, wenn sie seine Wut, Ängste und Enttäuschungen auffangen. Denn hinter dem Verhalten steckt der unbewusste Wunsch, eine neue, heilsame Erfahrung zu machen. Macht das Kind immer wieder korrigierende Erfahrungen, kann es lernen, immer besser zwischen dort und damals und hier und jetzt, zwischen der alten Beziehungserfahrung und der neuen, zu unterscheiden. Pflegeeltern wird hier ein hohes Maß an Toleranz, Einfühlungsvermögen und Verständnis abverlangt.[3]
Gefahr des Scheiterns in der Übertragungsphase
Die Übertragungsphase ist oftmals die schwierigste und turbulenteste, da das Kind alte Muster auf die neue Beziehung überträgt und die Kommunikation dadurch vollkommen verzerrt werden kann. Wenn das Kind ein Pflegeelternteil mit einem leiblichen Elternteil verwechselt, entstehen schnell Spannungen und Konflikte.
Da sich der Konflikt häufig nur mit einem Pflegeelternteil abspielt, während das andere Elternteil als sichere Verbindung des Kindes erhalten bleibt, kann es zudem zu heftigen Beziehungsproblemen zwischen den Elternteilen kommen, die bisweilen Entscheidungen für oder gegen die Partnerschaft oder das Pflegekind begünstigen. Aufgrund der intensiven Beziehungen und Spannungen in dieser Phase können auch Pflegeeltern unbewusst mit eigenen ungelösten Themen aus der Kindheit konfrontiert werden und mitunter in eine tiefe Resignation geraten. Die Phase kann gelöst werden, wenn sich die Pflegeeltern selbst therapeutische Unterstützung holen, um mit aufkommenden Themen besser umgehen und diese als Chance begreifen zu können.[4]
[1] Vgl. Niestroj, Hildegard (o.J.): Hilfen im Umgang mit traumatisierten Kindern. URL: https://docplayer.org/33910142-Hilfen-im-umgang-mit-traumatisierten-kindern.html (zuletzt aufgerufen am 10.1.2023), S. 6f.
[2] Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (2011): Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Strukturen, Verfahren und pädagogischen Prozessen in der Pflegekinderhilfe (Teil I und II). URL: http://www.bagljae.de/assets/downloads/158_empfehlungen-pkh-end-01-12-2022.pdf (zuletzt aufgerufen am 20.1.2023), S. 34.
[3] Vgl. Niestroj, Hildegard (o.J.): Hilfen im Umgang mit traumatisierten Kindern. URL: https://docplayer.org/33910142-Hilfen-im-umgang-mit-traumatisierten-kindern.html (zuletzt aufgerufen am 10.1.2023), S. 6f.
[4] Vgl. Nienstedt, Monika; Westermann, Armin (2007): Pflegekinder und ihre Entwicklungschancen nach frühen traumatischen Erfahrungen. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 382.