Adipositas ist eine Erkrankung, von der häufig nicht nur das Kind, sondern auch andere Familienmitglieder betroffen sind, denn im System wird gelernt, dass Stress durch Essen kompensiert werden kann. Tatsächlich ist das so, denn wenn der Magen gefüllt wird, wird der Parasympathikus aktiviert, was zu Entspannung und Stressreduktion führt. Der Parasympathikus ist, ebenso wie sein Gegenspieler, der Sympathikus, Teil des autonomen Nervensystems. Wenn er aktiv ist, tritt Beruhigung ein, die Gefäße weiten sich, Puls und Blutdruck sinken und die Atemfrequenz wird langsamer.

Stresskompensation im Säuglingsalter

Schon im Säuglingsalter lernen Kinder, Stressreaktionen durch Nahrungsaufnahme zu kompensieren. Das passiert, wenn sie wiederholt die Erfahrung machen, dass auf jegliche Form des Stresserlebens prompt mit Nahrungsangebot reagiert wird. Ein späterer Appell, weniger Kalorien zu sich zu nehmen, ist dann wenig erfolgversprechend, da das voraussetzt, dass das Kind Stress aushält beziehungsweise selbst regulieren kann, ohne den Umweg über den Automatismus von Nahrungsaufnahmen und parasympathische Entspannung zu gehen.[1]

Kinder, die von klein auf gelernt haben, dass ihre Bedürfnisse von erwachsenen Bindungspersonen nicht angemessen beantwortet wurden und der dadurch entstehende Stress mit Essen kompensiert wurde, können auch in anderen Bereichen auffälliges Verhalten zeigen. So kann es sein, dass sie in Bezug auf gemeinsames Spiel, Freizeitgestaltung oder soziale Interaktion den Eindruck erwecken, immer „gefüttert“ werden zu wollen. Sie zeigen kaum Eigeninitiative, schließen sich Angeboten aber bereitwillig an. Hier kann es als Bezugsperson darum gehen, die entstehende emotionale Leere auszuhalten, die auftreten kann, wenn das Bedürfnis, der Nahrungsaufnahme nicht befriedigt wird. Wichtig ist es dann, als Bezugsperson dennoch dazubleiben, auch wenn das Kind zunächst mit Frust, Ärger oder Ängsten reagiert. Nur so kann eine angemessene Entwicklung von Selbstregulationsfähigkeit und Stresskompetenz nachgeholt werden. Dadurch wird eine Alternative zur Stressregulation durch Essen entwickelt.[2]

 

[1] Vgl. Brisch, Karl Heinz (2019): Pubertät. Bindungspsychotherapie – Bindungsbasierte Beratung und Psychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 16.

[2] Vgl. Ebd., S. 168.