Mögliche Wirkungen gemeinsamer Unterbringung

Geschwisterkinder gemeinsam aufzunehmen bedeutet, einen gemeinsamen und doch individuellen Weg mit ihnen zu gehen. Die gemeinsame Unterbringung ermöglicht, dass Pflegeeltern Geschwisterkindern eine Veränderung ihrer Rollenmuster ermöglichen können. Diese Veränderung geschieht zumeist nicht von allein, sondern muss bewusst pädagogisch begleitet werden. Geschwister übernehmen, neben den Aufgaben, die normalerweise den Eltern zukämen, auch die nachfolgenden geschwisterspezifischen Funktionen füreinander.

Ältere Kinder sind zumeist Orientierungspersonen und Vorbilder für jüngere Geschwister, die von diesen manchmal leichter etwas annehmen können als von den Eltern.

  • In der Gruppe der Geschwister können Schicksalserfahrungen „auf horizontaler Ebene“ bewältigt werden. Es ist wichtig, dass Pflegeeltern hierfür Raum schaffen.
  • Die gemeinsame Unterbringung von Geschwistern kann erzieherische Prozesse erleichtern.
  • Ungleichbehandlung durch die Eltern wird bei gemeinsamer Unterbringung besonders drastisch wahrgenommen. Es ist wichtig, dass Pflegeeltern diesbezüglich sehr sensibel sind.
  • Rückführungsanträge für einzelne Kinder können zur Zerreißprobe für die geschwisterlichen Beziehungen werden. Hier brauchen die Kinder Beistand und Orientierungshilfen.
  • Weitreichende Entscheidungen, auch durch die Sozialen Dienste, sollten grundsätzlich nicht ohne Beteiligung der Kinder getroffen werden.
  • Innerhalb einer Geschwistergruppe können bei einzelnen Kindern unterschiedliche und sogar widersprüchliche Bedürfnisse bestehen.
  • Lösungen müssen nicht für alle Geschwisterkinder die gleiche Qualität haben: Was für ein Kind gut ist, kann für ein anderes belastend und hinderlich sein. Das betrifft womöglich auch den Kontakt zu den leiblichen Eltern.[1]

Mögliche Wirkungen getrennter Unterbringung

Welche Wirkung die Trennung von Geschwistern bei Fremdunterbringung hat, wurde von der Forschung noch nicht ausreichend in den Blick genommen. Aus Interviews mit betroffenen Pflegekindern lassen sich jedoch erste Erkenntnisse ableiten. Die Trennung von Geschwistern kann im Einzelfall zu starker Trauer und Sehnsuchtsgefühlen führen, sodass Entwicklungsaufgaben auf diese Weise kaum bewältigt werden können.

Im Zusammenhang mit Ansätzen der Bindungstheorie geht man davon aus, dass jede abgebrochene Beziehung im Kinder- und Jugendalter eine Verletzung hinterlässt, die die grundsätzliche Bindungsbereitschaft herabsetzt. Die Trennung von Geschwisterkindern wird aus dieser Perspektive zur Gefahr für die Fähigkeit, neue Beziehungen einzugehen, während eine gemeinsame Vermittlung Sicherheit gegeben und als positive Beziehungserfahrung den Grundstein für neue gelingende Beziehungen legen kann. Geschwisterlichkeit, als ein tragbares Gefühl der Verbundenheit, kann sich erst dann entwickeln, wenn Geschwisterkinder einen Zugang zueinander finden. Hierfür brauchen Sie, wie alle Beziehungen, Zeit und Raum.

Denn inwiefern sich die Dynamik zwischen Geschwistern ausgestaltet, hat nicht nur mit der Persönlichkeit des einzelnen Kindes zu tun, sondern auch mit den Rahmenbedingungen, auf die es trifft.  Pflegeeltern müssen entsprechend in der Lage sein, auf individuelle Bedürfnisse und Bedarfe feinfühlig zu reagieren und gleichzeitig den Blick für das Gesamtgefüge der Geschwisterbeziehung nicht zu verlieren. Was für das eine Kind gut ist, kann für das andere belastend und hinderlich sein.[2]

Pflegeeltern-Perspektive

Aus Sicht von Pflegeeltern ist das wichtigste Thema im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Vermittlung von Geschwisterkindern die Veränderung der versorgenden Rolle des älteren Geschwisterteils. Die meisten Pflegeeltern nehmen zu Beginn eine zu enge, durch Abhängigkeit definierte Beziehung zwischen Geschwisterkindern wahr, die sich im Laufe der Zeit normalisiert und eine individuelle Entwicklung zulässt. Allgemein wird die Aufnahme von Geschwisterkindern von Pflegefamilien zumeist als sehr herausfordernde Aufgabe erlebt, die sie nur durch ihre positive Einstellung der gemeinsamen Vermittlung gegenüber meistern können.

Folgende Aspekte werden als besonders herausfordernd empfunden:

  • Der erhöhte Arbeitsaufwand
  • Die Begleitung der Ablösung von der versorgenden Rolle
  • Der Organisationsaufwand, um individuelle Zeiten für die Kinder zu arrangieren
  • Die Belastung durch zwei traumatisierte Kinder
  • Das bewusste Achten und Einwirken auf die Beziehung der Kinder untereinander,
  • Das geschwisterlich konkurrierende, ambivalente und konflikthafte Verhalten

Für gemeinsam vermittelte Pflegekinder steht zumeist fest, dass sie zusammengehören und nicht getrennt werden möchten. Für die meisten von Ihnen verändert sich jedoch ihr Verhältnis zueinander und insbesondere ältere Geschwister lernen, Verantwortung abzugeben und nicht mehr „den Babysitter“ spielen zu müssen. Allgemein kommen alle beteiligten Akteure zu dem Schluss, dass für eine gemeinsame Vermittlung die Voraussetzung gegeben sein muss, dass die Geschwisterkinder ihre Beziehung zueinander als positiv erleben.

Ein wesentlicher Aspekt, der aus Sicht der Fachkräfte beachtet und mit aufnehmenden Pflegeeltern thematisiert werden sollte, ist ein Bewusstsein für das System im System, das durch die Aufnahme von Geschwisterkindern entsteht. Die Beziehungen in der Familie nehmen exponentiell zu. So hat ein Paar mit einem Kind drei Beziehungen zu managen, ein Paar mit leiblichem Kind, das drei Pflegekinder aufnimmt, muss 15 Beziehungen im Blick behalten. Sollte die Frage nach gemeinsamer oder getrennter Unterbringung bei Ihnen im Raum stehen, möchten wir Sie ermutigen, detaillierte Informationen bei Ihrem Jugendamt zur Geschwisterbeziehung einzuholen, damit Sie die bestehende Beziehung und die möglichen Beziehungsdynamiken in der Familie besser einschätzen können.[3]

Als Pflegeeltern unterstützen

Es gibt viele Gründe, warum es sich lohnt, dem Thema Geschwisterbeziehungen in Pflegefamilien besondere Aufmerksamkeit zu schenken:

  • Geschwisterbeziehungen zu verstehen, gibt wichtige Aufschlüsse darüber, wie Kinder Beziehungen allgemein begreifen und sie als Gefahr oder Chance sehen.
  • Während alle Kinder ihre Erfahrungen als persönlichen Rucksack mitbringen, bringen gemeinsam untergebrachte Geschwisterkinder einen Teil ihrer Erfahrungen in Person des Geschwisters ganz real mit.
  • Diese, im Herkunftssystem gewachsene Realität kann sich mit großer Wucht im neuen System der Pflegefamilie zeigen und große Herausforderungen mit sich bringen. Gerade deshalb ist es wichtig, die Dynamiken der Geschwisterbeziehung zu verstehen.
  • Geschwisterkinder stellen sich gegenseitig das „Familiengedächtnis“ zur Verfügung, das mit dem Verlassen der Herkunftsfamilie verloren gehen kann. Geschwisterkinder können, insbesondere durch die Unterstützung von Fachkräften, ihre eigene Biographie und die ihrer Vorfahren für sich zugänglich machen.
  • Für Pflegeeltern ist es von großer Wichtigkeit, sich mit ihren eigenen Bildern zu Geschwisterbeziehungen sowie möglicherweise den realen Erfahrungen als Geschwisterkind zu beschäftigen. Studien konnten zeigen, dass der Umgang von Fachkräften in Bezug auf Geschwisterthemen sehr stark von den persönlichen Erfahrungen der Pädagoginnen und Pädagogen geprägt ist.[4]

 

[1] Petri, Corinna; Radix, Kristina; Wolf, Klaus (2012): Ressourcen, Belastungen und pädagogisches Handeln in der stationären Betreuung von Geschwisterkindern. München: Eigenverlag des SOS-Kinderdorf. S. 83f.

[2] Petri, Corinna (2019): Durch Höhen und Tiefen. Geschwisterbeziehungen im Kontext der Fremdunterbringung. Siegen: Universitätsverlag Siegen. S. 71, 228, 231.

[3] Schacht, Waltraud; M. L. Müller-Schlotmann, Richard (2008): Vermittlung von Geschwisterkindern in Pflegefamilien. Erfahrungen aus Westfälischen Pflegefamilien. In: KONTEXT. Band 39, Ausgabe 1. S. 5162. 

[4] Schrapper, Christian (2015): Ressource oder Belastung? Zur Bedeutung von Geschwistern in der Pflegekinderhilfe. In: Sozial Extra. 39. Jahrgang, Heft 2. S. 27-31.