In der Beziehung zwischen den leiblichen Kindern und den Pflegegeschwistern macht es anscheinend einen Unterschied, ob die leiblichen Kinder zuvor Einzelkind waren oder bereits Geschwister haben. Leibliche Kinder, die zuvor alleine aufgewachsen sind, nehmen Pflegegeschwister eher wie vollwertige Geschwister an, während solche, die bereits Geschwister haben, eher einen Unterschied zwischen den leiblichen Geschwistern und den Pflegegeschwistern machen. Dieser wird z. B. gegenüber gleichaltrigen Freundinnen und Freunden häufiger benannt.

Dass Pflegekinder als anders empfunden werden, hat unterschiedliche Gründe. Manche Kinder wollen keine zu intensive Beziehung aufbauen, weil nicht klar ist, wie lange das Pflegegeschwisterkind bleibt, anderen fehlt die gemeinsame Geschichte, von Geburt an und wieder andere erleben, dass das Pflegegeschwisterkind in seinem Verhalten und seiner Persönlichkeit anders geprägt ist.

Obwohl das Zusammenleben größtenteils positiv erlebt wird, gibt es auch Schattenseiten. Für leibliche Kinder kann es zum Beispiel sehr herausfordernd sein, wenn es viele Konflikte mit dem Pflegegeschwister gibt, es aggressives Verhalten zeigt oder Dinge stiehlt.[1]

Wird, andersherum, ein leibliches Kind in eine Pflegefamilie hineingeboren, kann es passieren, dass bei dem Pflegekind alte Ängste und Verhaltensweisen wieder aktiviert werden, wenn die Mutter nach der Geburt des Kindes weniger Zeit und Aufmerksamkeit für das Pflegekind hat.[2]

Geschwisterkind-Perspektive

Für leibliche Kinder von Pflegefamilien ist die Aufnahme eines Pflegekindes eine besondere Sozialisationsbedingung. Zumeist kommen sie dadurch mit neuen und fremden Lebenswelten und Familienkonstellationen in Kontakt und erhalten auf diese Weise ein komplexeres Bild der Gesellschaft. Insbesondere leibliche Kinder in Bereitschaftspflegefamilien sind mit einem ständigen Beziehungswechsel konfrontiert. Ob sie die wechselnden Pflegegeschwister als bereichernd oder belastend empfinden, hängt maßgeblich davon ab, wie gut die Eltern ihre familiäre und professionelle Elternrolle ausbalancieren können. Bestenfalls erleben leibliche Kinder ein Familienklima, das sowohl von großer Offenheit als auch von Solidarität nach innen geprägt ist. Grundsätzlich haben leibliche Kinder durch das Zusammenleben mit Pflegekindern die Möglichkeit, weitreichendere soziale und kognitive Fähigkeiten auszubilden, wie z. B.

  • Offenheit und Interesse für zunächst fremde Kinder und Jugendliche,
  • Rücksichtnahme, Toleranz und Hilfsbereitschaft,
  • Teilen der Aufmerksamkeit der Eltern,
  • Teilen des eigenen Raumes und der eigenen Spielsachen,
  • Gestaltung von Kontaktaufnahme und Bewältigung von Trennung und
  • konstruktive Konfliktlösungsstrategien

Belastungen können leibliche Geschwisterkinder hingegen erleben, wenn sie selbst in herausfordernde Entwicklungsphasen geraten und mehr Zeit und ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern brauchen. Umso wichtiger ist es, die leiblichen Kinder auch vor Aufnahme eines Kindes in die Entscheidung miteinzubeziehen und in ihren Bedürfnissen diesbezüglich ernst zu nehmen. Im Verlauf des Zusammenlebens ist es wichtig darauf zu achten, dass leibliche Kinder nicht über die Maßen Verantwortung für das Pflegekind übernehmen und selbst zu einer Erziehungsperson werden.

 

[1] Debye, Alina; Jungbauer, Johannes (2022): Erfahrungen von leiblichen Kindern in Pflegefamilien – Eine qualitative Studie zu einem blinden Fleck in der Pflegekinderhilfe. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. 71. Jahrgang, Ausgabe 8. S. 705-721. S. 214ff.

[2] Müller-Schlotmann, Richard M. L. (2012): Geschwisterbeziehungen in Pflegefamilien und Pflegeeltern als Beziehungsmanager. URL:  https://www.moses-online.de/fachartikel-geschwisterbeziehungen-pflegefamilien-pflegeeltern-beziehungsmanager (zuletzt aufgerufen am 4.12.2023).