Aus entwicklungspsychologischer Perspektive entsteht Sicherheit von Geburt an durch Beziehungen und Beziehungserfahrungen mit Bezugspersonen. Sicherheit entsteht zudem durch vertraute Gegenstände wie zum Beispiel Kuscheltiere, eine gewohnte Umgebung und erworbene Kompetenzen. Auch Kinder, die bedrohliche Erfahrungen gemacht haben, versuchen ihre gefühlte Sicherheit zu erhöhen, indem sie spezifische Anpassungs- und Bindungsmuster an ihre Lebensumwelt entwickeln. Der Wechsel in einen neuen Lebenskontext erfordert von einem Kind eine extrem hohe Anpassungs- und Veränderungsleistung, um sich auf ein neues Umfeld, neue Personen und Regeln einzustellen. Wie jedes Kind, ist auch das Pflegekind durch sein Kindsein abhängig von erwachsenen Personen und dadurch dem Wechsel vollkommen ausgeliefert.

Bindungsforschung

Der Bindungsforscher John Bowlby beschreibt, dass Kleinkinder und Kinder nach der Verlusterfahrung einer Bindungsperson spezifische Trauerphasen durchlaufen. Hierzu gehören zum Beispiel das aktive Suchen nach einer Bindungsperson, was mit Sehnsucht, Ärger und Protest verbunden sein kann und anschließende Desorganisation, die sich in Verzweiflung ausdrücken kann. Schließlich kommt es zu Ablösungsbestrebungen, die zu einer Entfremdung von der Bindungsperson und Resignation führen können sowie endlich einer Reorganisation des Verhaltens in der neuen Umgebung. Nicht nur der Verlust vertrauter Menschen, sondern auch von Gegenständen und gewohnten Situationen kann sich gravierend auf das Sicherheitsempfinden des Kindes auswirken.

  • Aktives Suchen nach der Bindungsperson (Sehnsucht, Ärger, Protest)
  • Desorganisation (Verzweiflung)
  • Ablösung (Entfremdung von der Bindungsperson und Resignation)
  • Reorganisation des Verhaltens in der neuen Umgebung

Werden der Verlust und die Trauerprozesse nicht anerkannt und begleitet, können in der Folge Ängste, Verhaltensauffälligkeiten, regressives Verhalten oder depressive Reaktionen entwickelt werden. Pflegeeltern erkennen die beschriebenen Trauerreaktionen oftmals nicht als solche, sondern schreiben das Verhalten des Pflegekindes ausschließlich dessen Erfahrungen in der Vergangenheit zu. Das liegt auch daran, dass viele Kinder, die in Pflegefamilien aufgenommen werden, bereits desorganisierte oder vermeidende Bindungsmuster entwickelt haben, sodass das Trauerverhalten nicht als solches erkannt wird.

Angepasstes Verhalten

Vermeidende Kinder können schnell nach der Aufnahme ein angepasstes Verhalten zeigen, sich auf gemeinsames Spiel einlassen und pflegeleicht wirken. Dennoch ist es aus bindungstheoretischer Sicht wichtig davon auszugehen, dass sie hoch gestresst und evtl. verängstigt sind. Insbesondere bei einer Inobhutnahme werden die Kinder von fremden Menschen abgeholt und bei einer fremden Familie in einem fremden Umfeld zurückgelassen. Dass muss für das kindliche Bindungssystem bedrohlich wirken, selbst wenn die Kinder aus einer belastenden Situation kommen. Eine psychische Belastung ist mit großer Wahrscheinlichkeit bei allen Kindern der Fall, auch wenn sie es nicht zeigen oder kommunizieren.

Zudem kommt es bei Herausnahmen direkt aus der Familie häufig zu Auseinandersetzungen zwischen den Eltern und der Polizei oder den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamts. Je jünger ein Kind ist und je weniger es verbal einbezogen werden kann, desto belastender und überflutender sind diese Erfahrungen. Pflegeeltern können in der Folge verschiedene Verhaltensweisen beobachten, die zumeist auf die Erfahrungen in der Herkunftsfamilie bezogen, aber nur selten mit dem Wechsel an sich in Verbindung gebracht werden:

  • Klammerndes Verhalten
  • Apathie
  • Völliges »Aufgedrehtsein«
  • Tranceartige Zustände
  • Probleme des Kindes, sich die Namen der neuen Bezugspersonen zu merken
  • Besonders distanzloses Verhalten gegenüber Fremden

Pflegeeltern können ihr Pflegekind nach der Trennung besonders durch feinfühliges Verhalten unterstützen, indem sie zuverlässig anwesend sind, die Gefühle des Kindes verstehen, seine Trauer begleiten, den Gefühlen des Kindes Raum geben und seine elementaren Bedürfnisse versorgen.[1]

Die Rolle des Alters

Entwicklungspsychologisch ist es für den Wechsel bedeutsam, in welchem Alter bzw. welcher Entwicklungsphase sich das Kind gerade befindet. Bis zu einem Alter von 4 / 5 Monaten ist die Bindung noch nicht an einer bestimmten Person ausgerichtet, sodass das Kind im Hinblick auf die Folgen des Wechsels noch relativ geschützt ist. Typische Trennungsreaktionen können also ab einem Alter von 6 Monaten auftreten und starke Gefühle auslösen, ohne dass die Kinder jedoch in der Lage sind, die Veränderungen kognitiv zu verstehen. Im Alter von 10 Monaten wird die Bindung bereits spezifisch auf bekannte Bindungspersonen ausgerichtet. Dementsprechend fremdeln viele Kinder in diesem Alter und unterscheiden Bindungspersonen und fremde Menschen. Diese besonders kritische Altersphase hält dann bis zum 36. Monat an. Mit drei Jahren haben Kinder zwar bereits bestehende Bindungspersonen, können jedoch aufgrund ihres Alters auch verbal bei dem Wechsel begleitet und interaktiv eingebunden werden.

Kinder ab 10 Jahren

Viele ältere Kinder bis zu einem Alter von 10 Jahren haben vor der Fremdunterbringung die Erfahrung gemacht, dass ihnen die Verantwortung für die belastende Situation im Elternhaus gegeben wurde oder sie sie sich selbst gegeben haben und sie nicht liebenswert sind. Diese negative Selbstbewertung wird durch die Inpflegegabe noch verstärkt. Viele Kinder sind anfällig dafür, ein negatives Selbstbild zu entwickeln. Sie denken dann, dass sie selbst und ihr Verhalten der Grund dafür sind, dass sie verlassen und abgeschoben wurden. Ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln, ist für diese Kinder sehr herausfordernd. Dabei bräuchten sie genau dieses, um sich in der neuen Umgebung auf neue Beziehungen einzulassen und ihre Bedürfnisse einzufordern. Weitere negative Zuschreibungen dem Kind gegenüber müssen auf jeden Fall vermieden werden. Basis hierfür ist, dass sie immer wieder die Erfahrung machen, dass ihre Gefühle in Ordnung sind und gezeigt werden dürfen.

Es ist auch möglich, dass Kinder nach verletzend empfundenen Trennungen innerlich beschließen, sich nicht mehr zu binden. Unbewusst wollen sie dadurch weitere Verletzungen und Schmerzen vermeiden. Insbesondere diese Kinder benötigen therapeutische Unterstützung, um sich wieder öffnen und binden zu können. Übergänge sollten möglichst gleitend gestaltet werden, um den Kindern und auch Erwachsenen die Möglichkeit zu geben, sich auf die Veränderung einzustellen. Für das Kind ist es hilfreich, wenn ihm die Möglichkeit gegeben wird, Ängste, Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen in Bezug auf den Wechsel mitzuteilen.[2]

[1] Sandmeir, Gunda; Scheuerer-Englisch, Hermann; Reimer, Daniela; Wolf, Klaus (2010): Begleitung von Pflegekindern. In: Kindler, Heinz; Helming, Elisabeth; Meysen, Thomas; Jurczyk, Karin (Hrsg.): Handbuch Pflegekinderhilfe. München: Deutsches Jugendinstitut e.V. S. 480-523. S. 499-503.

[2] Ebd., S. 500-503.