Vereinfacht gesagt, lässt sich das Gehirn in vier Ebenen einteilen, die sich aufeinander aufbauend entwickeln und miteinander eng vernetzt sind. Je höher die Ebene, desto differenzierter ist die Aufgabe des Gehirnareals. Die erste und zweite Ebene, der Hirnstamm und das Zwischenhirn, entwickeln sich bereits pränatal und in den ersten Lebensmonaten und sind für basale Empfindungen, wie zum Beispiel Herzschlag, Atmung, Schlaf-Wachrhythmus, Kälteempfinden und Hunger- und Sättigungsgefühl, zuständig.

Kinder, die in dieser ersten Lebensphase bereits Vernachlässigung und Gewalt erfahren haben, konnten diese untersten Ebenen des Gehirns oft nicht vollständig entwickeln. Pflegeeltern erleben dann häufig, dass ihr Pflegekind kein Sättigungsgefühl zu haben scheint, im Winter im T-Shirt rausgeht, ohne zu frieren oder sich verletzt, ohne Schmerz zu empfinden. Etwa ab dem dritten Lebensmonat entwickelt sich die dritte Ebene des Gehirns, das Limbische System. Dieses ist für Gefühlsausdrücke zuständig, hier werden die emotionalen Rückmeldungen, die ein Kind von seinen Bezugspersonen erhält, gespeichert. Sind diese positiv und angemessen, entwickelt sich eine Gehirnorganisation, die Ruhe und Ausgeglichenheit ermöglicht.

Auf dieser Basis kann sich das Großhirn, die vierte Ebene, gut entwickeln. Dieses ist unter anderem für intellektuelle Fähigkeiten wie zum Beispiel Sprache, Impulskontrolle oder Empathie zuständig.

Trauma und Gehirn

Eine Traumatisierung wirkt sich auch auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns aus. Die meisten Pflegekinder waren als Säuglinge und Kleinkinder häufig auf Eltern angewiesen, die selbst kein sicheres Bindungsmuster hatten.  Da die Eltern der Pflegekinder oftmals ebenfalls traumatische Erfahrungen gemacht haben, kann das Weinen und Schreien der Kinder Ängste und Hilflosigkeit in ihnen auslösen.

Die Hirnforschung konnte zeigen, dass Kinder nicht mit einem ausgereiften Gehirn geboren werden, sondern sich dieses, in Abhängigkeit von dem Umfeld und den Erfahrungen, die das Kind erlebt, entwickelt. Besonders entscheidend sind dabei die ersten drei Lebensjahre des Kindes, da das Gehirn in dieser Zeit besonders formbar ist. Das bedeutet, umso früher und schwerwiegender eine Traumatisierung ist, desto stärker kann sie das sich entwickelnde Gehirn beeinträchtigen.

Traumatisierte Kinder haben Sinneseindrücke aufgenommen und fragmentarisch gespeichert, die mit lebensbedrohlicher Gefahr verbunden sind. Diese werden auch als Trigger bezeichnet. Werden Erinnerungen daran wachgerufen, ist eine rationale Reaktion, die das Geschehen im Gesamtzusammenhang einordnet, oft nicht mehr möglich. Die untersten Gehirnebenen übernehmen die Kontrolle und reagieren reflexartig. Pflegeeltern können dann erleben, dass ihr sonst sehr verständiges Pflegekind im Alter von acht Jahren plötzlich wie ein verängstigtes Kleinkind erscheint oder aber Kräfte und Aggressionen entwickelt, die sich gegen die Pflegeeltern oder andere Personen richten und so gar nicht zu dem sonstigen Verhalten des Kindes zu passen scheinen.

Zwei Arten des Gehirns

Der Neurobiologe Ford (2011) unterscheidet zwei Arten des Gehirns:

  1. Das »lernende Gehirn« eines sicher gebundenen Kindes: Ein sicher gebundenes Kind ist neugierig auf sich selbst, die Welt und andere Menschen und will Neues entdecken und lernen.
  2. Das »Survival-Gehirn« eines traumatisierten Kindes: Bei einem traumatisierten Kind ist das Gehirn auf Überleben ausgerichtet. Das Kind ist immer auf Gefahr hin orientiert und versucht, diese zu vermeiden und sich zu schützen.

Auch, wenn die traumatisierende Situation vorüber ist, arbeitet das Gehirn von traumatisierten Kindern nach diesem Ereignis also anders als jenes von nicht-traumatisierten Kindern. Umso wichtiger kann es sein, dem “Survival-Gehirn” auch in Alltagssituationen ausreichend Sicherheit zu geben, um wieder die Welt entdecken und Neues lernen zu können.[1]

[1] Schmitter-Boeckelmann, Anne (20c13): Erkenntnisse der Neurobiologie und der Psychotraumatologie als Beitrag zum Verständnis des Verhaltens und Erlebens von Pflegekindern. In: Trauma & Gewalt, 7. Jahrgang Heft 4/2013. Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, S. 349ff.