Was ist ein Trauma? Die ICD-10, ein Standardwerk, das alle bekannten Diagnosen umfasst, definiert Trauma als „ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (Dilling, 2019, S. 173).[1]

Bei einem traumatischen Erlebnis wird die Bewältigungs- und Verarbeitungsfähigkeit der Betroffenen überstiegen. Was die Person erfährt, hat so eine Intensität, dass der oder die Betroffene davon überwältigt wird. Er oder sie fühlt dann nur noch Hilflosigkeit, Ohnmacht und Lebensbedrohung und erlebt sich nicht mehr als handlungsfähig.[2]

Durch das vollkommene Angewiesensein eines Säuglings oder Kleinkindes auf seine Bezugspersonen, ist die Gefahr einer frühen Traumatisierung grundsätzlich hoch. Wenn die Grundbedürfnisse eines Säuglings nicht angemessen erfüllt werden, kommt er schnell in ein inneres Erleben von Hilflosigkeit und Lebensbedrohung, ohne dass er diesen Zustand deuten oder sich selbst regulieren kann. Ein dauerhafter Mangel an feinfühligem Verhalten kann für Kinder also eine traumatisierende Qualität bekommen. Erfahrungen, die einen so großen Stress auslösen, dass sie traumatisch wirken, können vielfältig sein.[3]

Schocktrauma

Grundsätzlich kann man unterscheiden zwischen einem Schocktrauma und einem Komplextrauma. Ein Schocktrauma ist ein einzelnes, für sich stehendes überwältigendes Ereignis. Das kann ein schwerer Autounfall, der Verlust eines nahstehenden Menschen oder das Miterleben einer Naturkatastrophe sein und vieles mehr. Allen Beispielen ist gemeinsam, dass sie einmalig auftreten und einen Anfang, einen Verlauf und ein Ende haben. Sie führen zu einer einmaligen Traumatisierung.

  • einzelnes, für sich stehendes überwältigendes Ereignis (z. B. schwerer Autounfall, Verlust eines nahstehenden Menschen, Erleben einer Naturkatastrophe)
  • einmaliges Auftreten mit Anfang, Verlauf und Ende
  • Folge: einmalige Traumatisierung

 

Komplextrauma

Unter einem Komplextrauma versteht man Traumatisierungen, die oft schon früh stattgefunden haben und durch toxischen, anhaltenden oder wiederkehrenden Stress verursacht wurden. Auslöser können psychische und physische Gewalt, Vernachlässigung, frühe Bindungsverluste, andauerndes Mobbing oder mangelnder elterlicher Schutz sein.

  • meist frühe Traumatisierungen
  • durch toxischen, anhaltenden oder wiederkehrenden Stress verursacht
  • mögliche Auslöser: psychische und physische Gewalt, Vernachlässigung, frühe Bindungsverluste, andauerndes Mobbing oder mangelnder elterlicher Schutz

Zu den Komplextrauma gehören auch das Entwicklungstrauma und das Bindungstrauma. Säuglinge, die schreien und keine Reaktion darauf erhalten, können in einen inneren Zustand großer Not geraten und diese als lebensbedrohlich empfinden. Aus Sicht einer erwachsenen Person kann sich das anders darstellen. Das Verhalten von Bindungspersonen kann so zu Entwicklungs- oder Bindungstraumata führen.

Entwicklungstraumatologie

Neuere Forschungen aus dem Gebiet der „Entwicklungstraumatologie“ sprechen von Entwicklungstrauma oder „Traumabedingter Entwicklungsstörung“. Sie meinen damit die störenden und belastenden Auswirkungen von Stress in der Schwangerschaft, bei der Geburt oder in der frühen Kindheit, die sich negativ auf die kindliche Entwicklung auswirken können. Bindungstraumata entstehen, wenn die traumatischen Erfahrungen, die ein Kind macht, unmittelbar die Beziehung zu seinen Bezugspersonen betreffen und die Bindungsfähigkeit durch diese Erfahrung beeinträchtigt wird. Hierzu gehören der frühe Verlust eines Elternteils, die Erfahrung von Gewalt durch Bezugspersonen oder die Vernachlässigung durch diese. Selbstverständlich muss jedoch nicht jede traumatische Erfahrung zu einem Trauma führen.

Entwicklungstrauma und Bindungstrauma sind so gesehen zu unterscheiden. Eine lebensbedrohliche Geburt kann eine traumatische Erfahrung sein, die zu einem Entwicklungstrauma führen kann. Das wäre der Fall, wenn die Eltern auf diese frühe Erfahrung nicht angemessen reagieren können. Doch nicht jede traumatische Erfahrung muss zu einem Trauma führen. Ist die Bindung an die Eltern liebevoll und stabil, kann die Beziehung die negative Geburtserfahrung auffangen. Ein Bindungstrauma entsteht dann, wenn die Bindung zwischen Eltern und ihrem Kind in der Art gestört ist, dass sich das Kind nicht angemessen entwickeln kann. Als Überbegriff spricht man deshalb häufig von frühen Traumatisierungen.[4]

Traumakontext

Man unterscheidet zwischen traumatogenen Faktoren, also solchen, die die Entstehung eines Traumas begünstigen und solchen, die schützende Wirkung in einer grundsätzlich traumatischen Situation haben.

Traumatogene Faktoren:

  • Zugehörigkeit zu Randgruppen
  • Vernachlässigung
  • Chronische Krankheiten der Eltern
  • Fehlende soziale Kontrolle

Schützende Faktoren:

  • Gute Beziehung zu einer Betreuungsperson
  • Weitere stabile Beziehungen
  • Soziale Förderung
  • Primär sicheres Bindungsverhalten[5]

 

[1] Dilling, Horst; Freyberger, Harald J. (Hrsg.) (2019): Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. Nach dem Pocket Guide von J. E. Cooper. 9., aktualisierte Auflage entsprechend ICD-10-GM. Bern: Hogrefe Verlag, S. 173.

[2] Vgl. König, Verena (2021): Bin ich traumatisiert? Wie wir die immer gleichen Problemschleifen verlassen.  München: Gräfe und Unzer Verlag, S. 19.

[3] Vgl. Bürgin, Dieter (2009): Konzepte über Entstehung, Aufrechterhaltung und Verlauf psychischer Störungen unter Berücksichtigung von Entwicklungspsychologie und Entwicklungspsychopathologie. In: Hopf, Hans; Windaus, Eberhard (Hrsg.): Lehrbuch der Psychotherapie für die Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und für die ärztliche Weiterbildung. Band 5: Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. München: CIP Medien, S. 55.

[4] Vgl. König, Verena (2021): Bin ich traumatisiert? Wie wir die immer gleichen Problemschleifen verlassen.  München: Gräfe und Unzer Verlag, S. 62-66.

[5] Winkelmann, Klaus (2009): Posttraumatische und akute Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. In: Hopf, Hans; Windaus, Eberhard (Hrsg.): Lehrbuch der Psychotherapie für die Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und für die ärztliche Weiterbildung. Band 5: Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. München: CIP Medien, S. 444.