Als Care Leaver werden junge Menschen bezeichnet, die sich in stationärer Erziehungshilfe, also Wohngruppen, Erziehungsstellen, Pflegefamilien oder anderen Betreuungssettings, befinden und deren Übergang in ein eigenständiges Leben unmittelbar bevorsteht bzw. bereits erfolgt ist.[1] Der Übergang aus der Hilfe erfolgt meist mit dem Erreichen der Volljährigkeit und geht mit einer Verselbständigung einher.[2]

Care Leaver befinden sich in dieser Zeit vorwiegend zwischen zwei Lebensphasen. Sie befinden sich in der Jugendphase, die im Vergleich zu früher verlängert ist. Das Jugendalter lässt sich nicht mehr klar vom Erwachsenenalter abgrenzen, so dass zwischen diesen beiden eine neue Lebensphase entstanden ist, die des jungen Erwachsenenalters, in der sich Care Leaver auch befinden.[3] Diese zwei Lebensphasen sind eng miteinander verknüpft, fließen ineinander,[4] somit ist der Übergang in das Erwachsenenalter langwieriger und komplexer geworden.[5] In dieser Zeit sind junge Menschen vor bestimmte Entwicklungsaufgaben gestellt, die der Kinder- und Jugendbericht des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wie folgt zusammenfasst:

  • Qualifizierung: Der Erwerb von Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen hat sowohl die ökonomische Unabhängigkeit als Ziel als auch die Ausbildung von intellektuellen Fähigkeiten, die dazu notwendig sind, die eigenen gesellschaftlichen und sozialen Rechte und Pflichten zu verstehen, zu vertreten und sozialverantwortlich zu handeln.
  • Verselbständigung: Bei Verselbständigung geht es darum, eine soziale, politische und wirtschaftliche Selbständigkeit aufzubauen und dabei Stück für Stück Verantwortung für das eigene Leben, den eigenen Körper und die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts zu übernehmen. Hierzu zählt auch, Beziehungen einzugehen und zu halten, z. B. eine Familie zu gründen und Verantwortung für andere Lebewesen, wie Natur und Umwelt, zu tragen.
  • Selbstpositionierung: Selbstpositionierung bedeutet hier, den eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden. Dazu gehören die eigene sexuelle Identität, die Entwicklung einer politischen Haltung und die eigene Zuordnung zu bestimmten sozialen Gruppen. Dies alles geschieht in einer Ausbalancierung innerhalb des Spannungsfeldes von subjektiver Freiheit und sozialer Zugehörigkeit.

Diese Entwicklungsaufgaben stellen für fast alle jungen Menschen eine Herausforderung dar. Vor allem aber für Care Leaver, denn sie gelten aufgrund ihrer Erfahrungen und Belastungen als besonders vulnerable Gruppe, die häufig über weniger Netzwerke, Ressourcen, Bildungschancen und Qualifikationen verfügt.[6] Da der Übergang aus der Hilfe meist erfolgt, wenn die jungen Menschen volljährig werden und mit einer Verselbständigung einhergeht,[7] wird Care Leavern ein beschleunigter Übergang in das Erwachsenenalter aufgezwungen.[8] Viele von ihnen fühlen sich unter Druck gesetzt, die Hilfe möglichst früh zu verlassen, auch wenn sie sich noch nicht bereit dazu fühlen. Sie ziehen häufig früher aus und sind auf sich gestellt,[9] wohingegen viele junge Menschen das Elternhaus im Jahr 2021 durchschnittlich erst mit 23,6 Jahren verließen.[10]

Rechtliche Möglichkeiten

Mit § 41 SGB VIII gibt es aber die Möglichkeit, eine Fortsetzung der Hilfe nach dem 18. Geburtstag zu beantragen. Studien mit Care Leavern aus Pflegefamilien kamen jedoch zu dem Ergebnis, dass deren Gewährung sehr unterschiedlich ausfällt. Zudem wird die Hilfe nicht pauschal für die drei Jahre zwischen dem 18. und dem 21. Geburtstag gewährt, sondern halbjährlich und mancherorts alle drei Monate im Hilfeplangespräch evaluiert. Für Care Leaver bedeutet das einen immer neuen Schwebezustand, der als sehr belastend empfunden werden kann.[11]

Ob der Übergang von der Pflegefamilie ins eigenständige Leben gelingt, hängt in vielen Fällen von der Bereitschaft der Pflegeeltern ab, ihr Pflegekind ehrenamtlich weiter zu begleiten und die ausbleibenden Zahlungen des Jugendamts mit Grundsicherung oder BAföG zu decken. Als besonders hilfreich in dieser Phase werden Netzwerke empfunden. Hierzu zählen sowohl professionelle Unterstützung durch Lehrerinnen und Lehrer, Therapeutinnen und Therapeuten oder Fachkräfte des Pflegekinderdienstes und des Jugendamtes, als auch persönliche Kontakte zu Freundinnen und Freunden, Familie und Nachbarschaft.[12]

Nicht einfach „weiter so“

Das Selbstverständnis von Pflegefamilien kann sehr unterschiedlich sein. So gibt es auch viele, die sich als Familie sehen und für die es nach dem offiziellen Ende der Hilfe einfach so weitergehen könnte, wie bisher. Ganz so einfach ist es jedoch nicht, denn der Rahmen, der Pflegekind und Pflegeeltern aneinandergebunden hat, fällt nun weg. Das kann verunsichern und mit Angst verbunden sein, denn spätestens beim letzten Hilfeplangespräch wird deutlich, dass es eben doch einen Unterschied zu anderen Familien gibt. Aus diesem Grund sollte mit der ganzen Familie über den Umgang mit dem Ende der Hilfe gesprochen und offen thematisiert werden, ob das Pflegekind weiterhin in der Pflegefamilie leben kann und will, ob und wie ein weiterer Kontakt gestaltet werden soll und ob sie als Pflegeeltern weiterhin finanzielle Unterstützung anbieten können. Auch eine Adoption kann unter Umständen an dieser Stelle in Betracht gezogen werden.

Ein „einfach weiter so“ funktioniert selten. Vielmehr ist es ungemein wichtig, die Beziehung zwischen den Pflegeeltern und dem Pflegekind gemeinsam neu auszuhandeln. Für Pflegeeltern ist es an dieser Stelle auch wichtig, klar zu entscheiden, welche Schritte und Lebensentscheidungen des Pflegekindes sie mittragen können und wollen und dies ebenso klar zu kommunizieren. Wird dies versäumt, ist die Gefahr von Konflikten groß, wenn das Pflegekind z. B. keinen Plan für seine Zukunft hat.[13]

Quellen

[1] Thomas, Severine (2015): Care Leaver auf dem Weg in ein eigenständiges Leben. Übergänge aus stationären Erziehungshilfen kreativ denken und begleiten. In: Jugendhilfe aktuell. Ausgabe 2.2015. S. 20-23. S. 20.

[2] Zeller, Maren; Köngeter, Stefan (2013): Übergänge in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Schröer, Wolfgang; Stauber, Barbara; Walther, Andreas; Böhnisch, Lothar; Lenz, Karl (Hrsg.): Handbuch Übergänge. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. S. 568-588. S. 581f.

[3] Sievers, Britta; Thomas, Severine; Zeller, Maren (2016): Jugendhilfe – und dann? Zur Gestaltung der Übergänge junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen. Ein Arbeitsbuch. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: IgfH-Eigenverlag. S. 9.

[4] Kompetenzzentrum Pflegekinder e. V. (Hrsg.) (2021): Careleaving in der Pflegekinderhilfe. Besondere Unterstützungsbedarfe- besondere Herausforderungen an die Jugendhilfe. URL: https://kompetenzzentrum-pflegekinder.de/wp-content/uploads/2022/01/Praxisheft_Careleaving-in-der-Pflegekinderhilfe_Bedarfe-und-Herausforderungen_2021.pdf (zuletzt aufgerufen am 23.11.2023). S. 6.

[5] Zeller, Maren; Köngeter, Stefan (2013): Übergänge in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Schröer, Wolfgang; Stauber, Barbara; Walther, Andreas; Böhnisch, Lothar; Lenz, Karl (Hrsg.): Handbuch Übergänge. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. S. 568-588. S. 582.

[6] Kompetenzzentrum Pflegekinder e. V. (Hrsg.) (2021): Careleaving in der Pflegekinderhilfe. Besondere Unterstützungsbedarfe- besondere Herausforderungen an die Jugendhilfe. URL: https://kompetenzzentrum-pflegekinder.de/wp-content/uploads/2022/01/Praxisheft_Careleaving-in-der-Pflegekinderhilfe_Bedarfe-und-Herausforderungen_2021.pdf (zuletzt aufgerufen am 23.11.2023). S. 7f.

[7] Zeller, Maren; Köngeter, Stefan (2013): Übergänge in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Schröer, Wolfgang; Stauber, Barbara; Walther, Andreas; Böhnisch, Lothar; Lenz, Karl (Hrsg.): Handbuch Übergänge. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. S. 568-588. S. 581f.

[8] Köngeter, Stefan; Schröer, Wolfgang; Zeller, Maren (2012): Statuspassage „Leaving Care“: Biografische Herausforderungen nach der Heimerziehung. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung. 7. Jahrgang, Heft 3. S. 261-276. S. 264.

[9] Lütz, Katharina (2019): Care Leaving. Übergänge für junge Menschen aus Pflegefamilien gestalten. Erkenntnisse aus der Bedarfserhebung. URL: https://www.familien-fuer-kinder.de/media/bedarfserhebung_care_leaving.pdf (zuletzt aufgerufen am 23.11.2023). S. 3, 8f.

[10] Statistisches Bundesamt (Destatis) (2024): Zehnjahreshoch: Fast ein Drittel der 15- bis 24-Jährigen lebte 2021 nicht mehr im Haushalt der Eltern. URL:  https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/08/PD22_N049_12.html#:~:text=In%20Deutschland%20verlie%C3%9Fen%20junge%20Menschen,fr%C3%BCher%20als%20im%20EU%2DDurchschnitt (zuletzt aufgerufen am 8.5.2024).

[11] Lütz, Katharina (2019): Care Leaving. Übergänge für junge Menschen aus Pflegefamilien gestalten. Erkenntnisse aus der Bedarfserhebung. URL: https://www.familien-fuer-kinder.de/media/bedarfserhebung_care_leaving.pdf (zuletzt aufgerufen am 23.11.2023). S. 8.

[12] Ebd., S. 10, 23.

[13] Ebd., S. 26f.