Geschwisterlichkeit wird, unbewusst, von gesellschaftlich geformten, wirkmächtigen Bildern bestimmt. Hierzu gehören z. B. biblische Geschichten wie Kain und Abel, Volksmärchen wie Hänsel und Gretel sowie politische Dimensionen wie Brüderlichkeit und Solidarität. Außer Frage steht, dass Geschwisterbeziehungen oftmals die längsten Beziehungen eines Menschen und häufig von grundlegender emotionaler Ambivalenz geprägt sind. Positive und negative Erfahrungen zeigen sich gleichermaßen.[1]

Geschwister in der Pflegekinderhilfe

Wie ging und geht die Pflegekinderhilfe mit dieser bedeutsamen Beziehung um? Bis in die 1990er Jahre hinein schlossen sich die Meinungen der Akteurinnen und Akteure im Pflegekinderwesen mehrheitlich der Position an, dass die Eltern-Kind-Beziehung deutlich höher zu bewerten sei als die Geschwisterbeziehung. Das führte dazu, dass gemeinsame Vermittlungen von Geschwistern nur selten und in Ausnahmefällen vorgenommen wurden.

Erst danach werden positive Erfahrungen dokumentiert, die sich auf die gemeinsame Vermittlung von Geschwisterkindern beziehen und vor allem den Erhalt von Beziehungen und Bindungen zum Herkunftssystem herausstellen. Interessant ist hierbei, dass Kinder in der Regel bereits ab dem zweiten Lebensjahr mehr Zeit mit ihren Geschwistern, als mit ihren Eltern verbringen und die Geschwisterbeziehung, in viele Fällen, die am längsten andauernde Beziehung im Leben ist.

Oftmals kann beobachtet werden, dass sich jüngere Geschwisterkinder an älteren Geschwistern orientieren und Sicherheit durch sie erfahren, während sich im Umkehrschluss, ältere Geschwister für die jüngeren verantwortlich fühlen. Insbesondere in Familien, die Unterstützungsleistungen der Jugendhilfe beziehen, kann beobachtet werden, dass ältere Geschwister die Rolle der Eltern übernehmen und für jüngere Kinder sorgen.[2]

Wichtige Aspekte von Geschwisterbeziehungen

  • Geschwisterbeziehungen sind erst im Kontext der Familie, den Generationen und ihrer Geschichte zu verstehen.
  • Sowohl die Bedeutung der Geschwistergruppe für jedes Kind als auch die Bedeutung jedes einzelnen Kindes für die Gruppe sind in den Blick zu nehmen.
  • Geschwistergruppen bewahren Erfahrungen mit der Jugendhilfe auf. Diese müssen mitbedacht werden, um Widerstände gegen Unterstützungsmaßnahmen einschätzen zu können.
  • Familiengeschichte und -dynamiken prägen die Beziehungserfahrungen und Beziehungsmuster sowohl der einzelnen Kinder als auch der Geschwistergruppe. Geschwister können dabei unterschiedliche Erfahrungen mit Bezugspersonen gemacht haben.
  • In Pflegefamilien werden die Erfahrungen und Muster aus der Herkunftsfamilie vielfältig wiederbelebt und reinszeniert.
  • Geschwistergruppen verfügen über einen umfangreichen „Erinnerungsschatz“ ihrer Herkunft, den sie aktivieren, wenn sie sich in neuer Umgebung zurechtfinden müssen.
  • Geschwistergruppen haben eigene Wertesysteme entwickelt, die sie in die Pflegefamilie mitbringen.
  • Geschwisterlichkeit ist eine „soziale Konstruktion“ und mit vielen Erwartungen und Idealen befrachtet.[3]

 

Sicht der Fachkräfte

Viele Kinder, die ihre Herkunftsfamilie verlassen müssen, erleben Geschwisterbeziehungen als sehr wichtig und erfahren eine zusätzliche Belastung, wenn sie getrennt werden. Die Vereinten Nationen haben in ihrer Resolution der Kinderrechte darauf Bezug genommen, indem sie herausstellen, dass Kinder mit bestehenden Geschwisterbeziehungen bei einer Fremdunterbringung nicht getrennt werden sollten, es sei denn es besteht die Gefahr von Gewalt oder ist nicht im Interesse der Kinder. Sofern es nicht dem Wunsch der Geschwister entgegensteht, sollte in jedem Fall ein fortbestehender Kontakt ermöglicht werden.[4]

Laut einer Jugendamtsbefragung im Jahr 2011 ist der Umgang mit Geschwisterbeziehungen von Amt zu Amt verschieden. Diejenigen, die eine gemeinsame Vermittlung befürworten würden, haben dazu jedoch meist begrenzte Möglichkeiten. Es stehen kaum Plätze für Geschwisterkinder zur Verfügung. Gleichzeitig wird Geschwisterschaft als eine wichtige Ressource der Jugendhilfe betrachtet. Da die meisten Geschwisterbeziehung über ein ganzes Leben andauern, sind sie Konstanten in gebrochenen Lebensläufen. Positive Aspekte aus Sicht der Jugendhilfe können sein:

  • Geschwister können sich eine Unterstützungsperspektive nach Ende der Unterbringung bieten
  • Sie können die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen und dabei helfen, die eigene Identität zu entwickeln.
  • Geschwister durchlaufen oftmals miteinander ein soziales Training.
  • Bei einer Fremdunterbringung können sie sich am neuen Lebensort Halt geben und
  • Die gemeinsame Geschichte kann helfen, frühere Erfahrungen zu verarbeiten.

Herausfordernde Aspekte

Herausfordernde Aspekte, die aus Sicht der Jugendhilfe eher für eine getrennte Unterbringung sprechen können, können sein:

  • Geschwisterbeziehungen sind unkündbar und deshalb häufig ambivalent.
  • Zwischen Geschwistern sind oft starke und widersprüchliche Gefühle im Spiel.
  • Geschwister müssen sich tagtäglich miteinander arrangieren und die Konflikthäufigkeit ist hoch.
  • Geschwister können sich in ihrer individuellen Entwicklung gegenseitig stark behindern.
  • Im Falle von Abhängigkeiten können ungute Dynamiken entstehen.
  • Beim Auszug eines älteren Geschwisters aus der Pflegefamilie können sich jüngere Geschwister im Stich gelassen fühlen[5]

Ressourcenpotential

Bei der Fremdunterbringung muss eine Balance zwischen dem Ressourcenpotential und den möglichen Belastungen von Geschwisterbeziehungen hergestellt werden. Aus pädagogischer Sicht gibt es einige hilfreiche Aspekte, die das Potential von Geschwisterbeziehungen, als Ressource zu wirken, unterstützen können:

  • Systematische Berücksichtigung der Bedürfnisse und Wünsche von Geschwistern: Das reicht von der Prüfung einer gemeinsamen Unterbringung, bei der die Kinder gehört und ernst genommen werden, über die Unterstützung, im Falle einer Trennung Kontakt zu halten, bis zur Gestaltung von Übergängen.
  • Förderung der Entwicklung von Geschwisterbeziehungen: Das bedeutet, dass sich Betreuungspersonen bemühen, das Herkunftssystem und die Geschichte von Geschwisterkindern zu verstehen und sie darin unterstützen, ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Hierzu gehört auch, in der individuellen Arbeit mit Geschwisterkindern herauszufinden, welche Beziehung sie zu ihren Geschwistern haben möchten und sie darin zu unterstützen, diese Beziehung weiterzuentwickeln.
  • Strukturen zur Förderung von Geschwisterbeziehungen anbieten: Auch in Hilfeplanprozessen sollten Geschwisterbeziehungen immer wieder eine Rolle spielen. Betreuungspersonen sollten über die Kompetenzen verfügen, mit Dynamiken in Geschwisterbeziehungen umzugehen und ihre eigenen Geschwistererfahrungen in ihrem Herkunftssystem reflektieren.
  • Angemessene Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen: Auf Seiten der Jugendhilfeträger sollte ein Fokus auf den besonderen Bedarfen von Geschwisterkindern liegen und die Rahmenbedingungen und Ressourcen so gestaltet werden, dass eine Aufnahme und Arbeit mit Geschwisterkindern möglich sind.[6]

[1] Schrapper, Christian (2015): Ressource oder Belastung? Zur Bedeutung von Geschwistern in der Pflegekinderhilfe. In: Sozial Extra. 39. Jahrgang, Heft 2. S. 27-31. 

[2] Schacht, Waltraud; M. L. Müller-Schlotmann, Richard (2008): Vermittlung von Geschwisterkindern in Pflegefamilien. Erfahrungen aus Westfälischen Pflegefamilien. In: KONTEXT. Band 39, Ausgabe 1. S. 5162. 

[3] Schrapper, Christian (2015): Ressource oder Belastung? Zur Bedeutung von Geschwistern in der Pflegekinderhilfe. In: Sozial Extra. 39. Jahrgang, Heft 2. S. 27-31. 

[4] United Nations (2010): Resolution adopted by the General Assembly on 18 December 2009. 64/142 Guidelines for the Alternative Care of Children. URL: https://digitallibrary.un.org/record/673583/files/A_RES_64_142-EN.pdf?ln=en (zuletzt aufgerufen am 6.3.2024).

[5] Weiss, Karin (2015): Sie wirken, auch wenn sie nicht da sind. Aus der Geschwisterforschung bei SOS-Kinderdorf. In: Forum Jugendhilfe. 03/2015. S. 44-50. S. 45.

[6] Ebd., S. 45-50.